D14650 Die Zukunft der Wahrheit Vortrags- und Seminarabend mit Prof. Dr. Achim Köddermann

Auch wenn Werner Herzog die Frage der Wahrheit jenseits der Empirie auch in der Kunst sucht: Zu Hause ist sie seit dem griechischen Altertum in der Philosophie, die sich auch seit dieser Zeit mit ihrer Verfälschung in der Rhetorik oder Propaganda auseinandersetzt.
Angesichts der Wahlen in Europa und den USA, aber auch in Indien, wird klar, dass sich die Realitätserfahrung immer weiter von der empirischen Wahrheit entfernt. Richard Rorty sieht dabei eine Spannung zwischen der Eigenständigkeit der Wahrheit und dem Zwang, sich den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. So haben sich die zwei Welten, die der Republikaner und die der Demokraten, in den USA so auseinandergelebt, dass man nicht mehr von einer geteilten Realität ausgehen kann – und damit droht „Wahrheit“ durch Fake News, politische Manipulation und künstliche Intelligenz von kalten Fakten unabhängig zu werden. Wenn das so wäre, hätte Wahrheit keine Zukunft. Verunsicherung wäre die Folge.
Objektive überprüfbare „Fakten“ sind doch auch nur interpretiert: mit Hilfe der Geschichte der Philosophie sollen verschiedene Ansätze diskutiert werden, die das Ideal der Wahrheit retten wollen. Wir müssen uns wieder darauf einigen können, was wirklich ist – als Grundlage der Toleranz. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, schrieb Ingeborg Bachmann. Besonders im Krieg – ob Ukraine oder Palästina – ist die Wahrheit oft das erste Opfer. „Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.” Die Lüge in Krieg wie Politik besteht dann in der Täuschung über die Wahrheit. Im aufrichtigen Dialog gefundene Wahrheit sorgt dagegen dafür, dass nicht Gewalt siegt, nicht die Hetzrede oder das Geld, sondern geteilte Werte, nicht das gerade Populäre, sondern das Richtige, als Ziel Wiesbadens; als Motto über der Prachtseite des Staatstheaters mit Schiller zu lesen: "der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben: Bewahret sie". Vielleicht müssten wir, in Zeiten der Verfälschung der Realität, wieder über eine ästhetische (und kritische) Erziehung des Menschen als Medienethik nachdenken, oder mit Nietzsche eingestehen, dass wir nicht weiter naiv auf „den letzten Rauch der verdunstenden Realität“ vertrauen können. Also ist Wahrheit nicht schon irgendwo vorhanden, sondern muss mühsam, als Aufgabe des Denkens, erkannt werden.

Dr. Köddermann ist Professor für angewandte Philosophie an der State University of New York.
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